Sehnsüchtig hatten wir irgendwann begonnen, auf den Laden gegenüber zu schielen. Die Situation in der Ohlauer Straße hatte sich schleichend gedreht. Aus Leerstand waren Cafés, Schnick-Schnack-Läden, Kneipen und ein Waschsalon geworden. Die Preise stiegen. Und in unserem Glaskasten platze das LeseGlück allmählich aus allen Nähten. Der Laden wurde zu klein. Auch um zwei Lebensunterhalte zu tragen.
WIR NEHMEN DEN LADEN
Inzwischen waren wir gut vernetzt in der Straße. Auch mit der Hausgemeinschaft gegenüber. Eines Tages erwähnte Susan einem unserer Kunden gegenüber, der in dem Haus auf der anderen Seite lebte: „Sollten die jetzigen Mieter jemals ausziehen, sag Bescheid. Wir nehmen den Laden.“ Der Kunde nickte freundlich.
Die Monate zogen ins Land, die Jahreszeiten wechselten und wir schauten uns nach einer größeren Fläche um. Keine passte. Unseren Kommentar zum Laden gegenüber hatten wir fast schon vergessen, als der Kunde uns wieder einmal besuchte. „Ihr könnt den Laden haben, wenn ihr wollt. Die Schneiderwerkstatt zieht aus.“ Es war Anfang 2012. Mehr als ein Jahr war vergangen.
6000 BÜCHER ZIEHEN UM
Unser Zeitplan für den Umzug war gewohnt sportlich. Einen Monat gaben wir uns für den Umbau des neuen Ladens. Aus Doppelkastenfenstern mussten wir richtige Schaufenster machen. Der Boden musste erneuert werden, die Wände gestrichen. Um das Ganze noch einen Tacken abenteuerlicher zu machen, und um Miete zu sparen, vermieteten wir für diese Zeit einen Teil des Ladens an eine Film-Crew weiter, die nun mit ihrer Requisite, Maske und dem Catering einzog.
Für den Umzug selbst sollte ein Wochenende reichen. Samstag Kisten packen. Sonntag rüber tragen, aufbauen, Lampen anschließen. Montag wieder aufmachen. Ohne unsere wunderbaren Freunde und Kund*innen, die uns halfen und an einem sonnigen Sonntag im Juni eine Kette quer über die Ohlauer bildeten, hätten wir das nicht in dem Tempo geschafft. Das Erstaunlichste an dieser für uns überhaupt erstaunlich geglückten Umzugsgeschichte war, dass alle Möbel, die wir 2007 für den kleinen Laden hatten Maß anfertigen lassen, perfekt in den großen Laden passten. Drei Regale = exakt die lange hintere Wand. Ein Regal = der Abstand zwischen Fenster und Eingangstür. Nur den Tresen mussten wir ein Stück verlängern. Niemals hätten wir das planen können.
WIR DACHTEN IHR HABT ZUGEMACHT
Dass wir mit unserem Umzug auf die andere Straßenseiten auf Jahre für Irritation sorgen würden, hätten wir nicht gedacht. „Wir dachten, ihr habt zugemacht.“ „Wart ihr nicht einmal auf der anderen Seite?“ „Jetzt entdecke ich euch nach Jahren endlich wieder.“
Auch die uns nachfolgende Betreiberin eines Schmuckladens musste ratlose Kund*innen auf der Suche nach einem Buch noch über Jahre auf die andere Straßenseite verweisen.
Mit dem größeren Laden haben wir nicht nur die Nachmittagssonne gewonnen, sondern auch neue Kund*innen. Das liegt nicht nur an der anderen Straßenseite und der größeren Fläche. Auch der Kiez hat sich gewandelt. Neue Menschen sind zu-, manche liebgewonnenen Kund*innen sind weggezogen. Manche sind mehr geworden und haben Familien gegründet, andere sind inzwischen erwachsen und kommen uns nur noch hin und wieder besuchen. Die Kreuzberger Mischung der Anfangsjahre hat sich verändert. Geschnorrt wird kaum noch.
Und wir und das LeseGlück? Wir sind routinierter geworden, professioneller, das LeseGlück gemütlicher. Mit dem Umzug sind wir richtig angekommen. Der Laden begann uns zu tragen und irgendwann auch unsere trendbewusste Aushilfe Asia und unsere buch-begeisterte Angestellte Stef. Wir sind eng verwoben mit dem Kiez und mit der Straße, wir kooperieren mit dem ExMe, mit Kitas und Schulen. Das LeseGlück trägt Früchte. Eine ist der Buchhandlungspreis, mit dem wir 2021 ausgezeichnet wurden.